Parnell/Auckland, Februar 1920

 

Vivian saß am weit geöffneten Fenster und blickte versonnen in den Garten. Dabei sog sie staunend die fremden Gerüche tief ein und konnte sich nicht sattsehen an den intensiven Farben der ihr völlig fremden Blumen. Sie war in London höchstens bei einem Spaziergang durch den Park in den Genuss gekommen, frische Blumen zu betrachten. Auch die Geräusche waren ganz anders als in London. Wo zu Hause der Lärm der Stadt sogar durch die geschlossenen Fenster in die Wohnungen gedrungen war, herrschte hier eine angenehme schläfrige Ruhe.

  Ein forderndes Klopfen an der Tür des geräumigen Zimmers, in das Fred sie vorhin gebracht hatte, ließ sie aufschrecken. Zu ihrem großen Bedauern hatte der junge Mann bald nach ihrer Ankunft zurück in den Verlag eilen müssen.

  »Herein!«, rief Vivian und wandte ihren Blick neugierig zur Tür. Sie war enttäuscht, als eine ältere Frau eintrat. Und sie spürte sofort eine Aversion gegen sie in sich aufsteigen. Sie schätzte die hagere Fremde auf vierzig bis fünfzig Jahre. Was ihr auf Anhieb missfiel, war der Blick, mit dem diese Person sie unverschämt musterte.

  »Wie war die Reise?«, fragte die Frau nun in unerwartet höflichem Ton und konnte ihr Erstaunen über Vivians Aussehen doch nicht verbergen. Dabei versuchte sie zu lächeln.

  »Wie war die Reise?«, wiederholte sie.

  »Gut, aber dürfte ich einmal erfahren, wer Sie überhaupt sind? Ich habe eigentlich meinen Vater erwartet.«

  Das eben noch krampfhaft lächelnde Gesicht der Frau gefror zur Maske.

  »Ich habe nur nett sein wollen, aber lassen wir das Drumherumgerede. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass ich auch nicht begeistert bin, eine erwachsene Tochter zu bekommen ...«

  »... entschuldigen Sie bitte, aber ich bin nicht Ihre Tochter. Was erlauben Sie sich?«, fauchte Vivian, doch dann dämmerte es ihr. »Sind Sie ... ich meine ... sind Sie seine Frau?«

  »Wer denn sonst? Ich bin Rosalind Newman«, gab die Frau des Bischofs empört zurück.

  »Aber Sie werden schon verstehen, dass ich Sie nicht Mutter nennen werde, nicht wahr?«, erwiderte Vivian mit einem spöttischen Unterton.

  »Das fehlte noch. Am liebsten wäre es mir, du würdest mich Misses Newman nennen, auch wenn wir unter uns sind. Ach, was hat sich deine Mutter nur dabei gedacht, dich uns zu schicken?«

  »Das frage ich mich allerdings auch«, entgegnete Vivian wütend.

  Diese Äußerung brachte ihr einen verwirrten Blick Rosalinds ein. »Heißt das, du hast es gar nicht gewollt?«

  »Richtig, ich lege keinen Wert darauf, den Mann kennenzulernen, der sich mein Vater schimpft. Es ist der Letzte Wille meiner Mutter, und den habe ich zu respektieren.«

  »Na gut. Es ist nicht zu ändern. Irgendwann rächt sich jeder Fehltritt.«

  »Was wollen Sie damit sagen?«

  »Entschuldige, das ist mir nur so herausgerutscht. Er hat sich immer bedeckt gehalten, was sein Verhältnis zu deiner Mutter angeht, aber jetzt wird mir so einiges klar. Ich konnte doch nicht ahnen, dass deine Mutter eine Maori war. Ich habe ja von deiner Existenz überhaupt erst kürzlich erfahren.«

  Vivian schluckte trocken. Ich habe ja von deiner Existenz erst kürzlich erfahren. Das hatte sie heute schon einmal gehört. Aus Freds Mund. Aber hatte er sie auch für die Tochter einer Maori gehalten? Es war nicht eben viel, was Vivian über die Maori wusste. Nicht mehr und nicht weniger, als in ihrem Buch gestanden hatte. Und das war mehr als dürftig gewesen. Immerhin aber genug, um zu wissen, dass ihre Mutter nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit den Maori auf den Abbildungen besaß.

  »Meine Mutter ist noch hellhäutiger als Sie, Misses Newman. Aber falls Sie auf meinen dunklen Teint anspielen, einer meiner Vorfahren war wohl ein Italiener.«

  Vivian stutzte. So plausibel ihr diese Erklärung ihrer Mutter sonst auch immer erschienen war, in diesem Augenblick machten sich leise Zweifel bemerkbar.

  Rosalind aber reichte ihr versöhnlich die Hand und erklärte seufzend: »Dann bin ich ja beruhigt. Aber es ist nicht fair, uns ungefragt ihr Kind ins Haus zu schicken. Nun müssen wir eben das Beste daraus machen.«

  »Keine Sorge, ich bleibe keinen Tag länger, als ich unbedingt muss. An meinem einundzwanzigsten Geburtstag bin ich fort«, erwiderte Vivian hastig. Dass man sie so unverhohlen ablehnen würde, das hatte sie nicht in Betracht gezogen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass ihr Vater sie reumütig empfangen und ihr mit fadenscheinigen Ausreden kommen würde, warum er ihre Mutter einst in einer so schwierigen Lage allein in London zurückgelassen hatte.

  »Darf ich Sie zu einem kleinen Ausflug durch unser schönes Parnell entführen?«, unterbrach Freds wohlklingende Stimme Vivians Gedanken.

  Erfreut wandte sie sich zu ihm um. Er kam ihr wie gerufen. Sie verspürte keine Lust, sich weiter mit der Ehefrau ihres Vaters zu unterhalten.

  »Na, du hast deine Meinung aber schnell geändert, was die Ankunft dieses Mädchens betrifft. Und schon spielst du den fürsorglichen Bruder«, bemerkte Rosalind an Fred gewandt in spitzem Ton.

  »Bruder?« Das traf Vivian so unvorbereitet, dass sie ins Wanken geriet und sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Bruder?«, wiederholte sie fassungslos.

  »Mutter«, schimpfte Fred, »hör auf damit! Wir haben beschlossen, sie freundlich aufzunehmen. Sie kann schließlich nichts dafür und hat gerade erst ihre Mutter verloren. Sie nimmt dir doch nichts weg!«

  Vivian atmete tief durch.

  »Ich möchte gern allein sein«, murmelte sie.

  »Aber Vivian, ich glaube, Sie brauchen dringend frische Luft«, widersprach Fred besorgt, doch da hatte seine Mutter ihn bereits am Ärmel durch das halbe Zimmer gezogen.

  »Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Komm!«

  Unter der Tür wandte sich Rosalind noch einmal um.

  »Dein Vater erwartet dich um acht Uhr in seinem Arbeitszimmer. Und sei bitte pünktlich. Er kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen. Bitte zieh das verschwitzte Reisekostüm aus und kämm dir die Haare. Er hasst Unordnung.«

  Nachdem die Tür endlich zugeklappt war, schlug Vivian die Hände vor das Gesicht und weinte bittere Tränen. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. Ihr Vater war also verheiratet gewesen, als er ihre Mutter geschwängert hatte. Deshalb hatte er sie sitzen gelassen. Warum hat sie mich bloß nicht darauf vorbereitet, dass er eine Familie hat?, fragte sich Vivian verzweifelt. Dann hätte ich doch wenigstens gewusst, was mich hier erwartet. Ja, sie konnte Rosalind sogar ein wenig verstehen, denn welche Frau nahm schon gern das Ergebnis eines Seitensprunges bei sich auf?

  Der Vorsatz, ihr Schicksal tapfer zu ertragen, geriet gefährlich ins Wanken.

 

 

Der Schwur des Maori-Mädchens
titlepage.xhtml
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_000.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_001.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_002.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_003.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_004.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_005.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_006.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_007.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_008.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_009.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_010.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_011.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_012.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_013.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_014.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_015.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_016.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_017.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_018.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_019.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_020.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_021.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_022.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_023.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_024.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_025.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_026.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_027.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_028.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_029.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_030.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_031.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_032.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_033.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_034.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_035.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_036.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_037.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_038.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_039.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_040.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_041.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_042.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_043.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_044.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_045.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_046.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_047.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_048.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_049.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_050.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_051.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_052.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_053.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_054.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_055.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_056.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_057.html
Laura Walden - Der Schwur des Maori-Maedchens_split_058.html